Johann Duerr-Helene Hamstein
Mai 2018 - Dezember 2019 - Charaktere aus dem Buch "Die Bitcoinverschwörung"
Kapitel 1/3 - Mai
2018
Als die
Kommissare Helene Hamstein und Johann Duerr am 17. März 2018 aus China (E-Book/Print:
"Die Bitcoinverschörung") nach Deutschland zurückkehrten, waren sie erschrocken
über die Verwüstungen in den Städten. Eingeschlagene Schaufensterscheiben, verkohlte, ausgebrannte Autos und verwüstete Geschäfte überall - so gab es jeden Tag fast ununterbrochen Einsätze und erst nach vielen Wochen kehrte allmählich der Alltag wieder
ein. Wie es Helene wohl ergangen war? Duerr entschied, seine Kollegin endlich mal anzurufen.
"Hallo,
Helene, wie geht's?"
"Johann,
wie schön, von dir zu hören! Hier gab es seit unserer Ankunft pausenlos
Einsätze, bei denen alle mit ran mussten. Ich nehme an, bei dir war es
genauso?"
"Du
sagt es. Aber so langsam wird es ruhiger. Und da fällt mir natürlich meine liebe
Kollegin ein - wie sieht es aus: Darf ich dich auf ein gemeinsames Abendessen einladen?"
"Prima",
antwortete Hamstein erfreut, "ich bin dabei. Wo und wann?"
"Am
Samstagabend, 19.00, Nassauer Hof?"
"Perfekt.
Ich freue mich, bis dann, Johann."
Es
würde schön sein, sie wiederzusehen. Die aufregenden Tage lagen nun schon
einige Zeit hinter ihnen und er hatte Zeit gehabt, in Ruhe darüber
nachzudenken. Es war irgendwie eine sehr anregende Zeit gewesen, die ihn aus
seiner Frustration, ja, man konnte fast sagen Resignation, über seinen Alltag
herausgerissen hatte. Seitdem
hatte sich einiges geändert. Seiner Meinung nach hatte er eine Chance auf ein
zweites Leben bekommen. Er hatte die Geschichte überlebt und war jetzt
entschlossen, noch viel zu erfahren und das Beste aus seinem Alltag zu machen. So buchte er
spontan einen Tai-Chi Kurs, eine langsame und sanfte Art der Kampfkunst. Dann
besuchte er eine Ü-50 Party und stellte fest, dass dort jede Menge Senioren
unterwegs waren, und zwar wesentlich älter als er. Es war zwar schön gewesen,
mal wieder wie früher abzutanzen, aber so uralt fühlte er sich mit seinen 63
Jahren nun doch noch nicht. Und alleine machte es auch keinen Spaß.
Er
hatte oft an Helene gedacht. Damals schien es fast so, als sei sie
interessiert, aber der Altersunterschied von 18 Jahren war ihm doch ein wenig
zu groß. Trotzdem hatte diese Grenzerfahrung sie mehr verbunden, als er
gedacht hatte. Seine Kollegen waren zwar anfangs neugierig gewesen - aber
genaueres hatte er nicht erzählen dürfen. Ihm war eine strenge Geheimhaltung
vom Chef auferlegt worden, die er sogar hatte unterschreiben müssen. Mit einem
ganzen Nachsatz von Konsequenzen, falls er sich nicht daran halten würde. Naja.
Am
Samstagabend wollten sie sich direkt in Wiesbaden vor dem Nassauer Hof treffen.
Er hatte in dem Versuch, sein Leben zu verändern, einen Kleiderwechsel vorgenommen.
Und so erschien er in Boots, Jeans und blauem Rolli mit einem metallic-grauen
Blazer. Na,
wo bleibt sie denn, fragte er sich, auf die Uhr sehend, denn es war
mittlerweile 19.15. Da kam sie schon angelaufen und winkte ihm zu. Erfreut sah
er ihr entgegen. Außer Atem kam sie bei ihm an.
"Tut
mir leid, es ging nicht früher. Aber jetzt bin ich ja da!"
Helene
sah reizend aus, ganz wie in seiner Erinnerung. Vom Laufen gerötete Backen,
schwarze Stiefel, ein halb geöffneter, schwarzer Mantel, aus dem ein apartes,
graues Strickkleid hervorschaute, darüber ein blauer Schal in verschieden
Blautönen. Sie hatte sich einen anderen Haarschnitt zugelegt: Anstatt der
früher zusammengebundenen Haare trug sie jetzt einen Bob, der ihr sehr gut stand.
"Hey",
strahlte sie ihn an, "was hast du denn angestellt ... du siehst gut
aus!" Sie musterte ihn und was sie sah, gefiel ihr. "Eine neue
Liebe?"
Johann
lächelte: "Nein, aber was nicht ist, kann ja noch werden."
Er
bot ihr den Arm, in den sie sich gerne einhängte: "Und selbst? Wenn Frauen
einen neuen Haarschnitt wählen..."
Sie
schüttelte den Kopf. "Mir war einfach danach, ich habe mir das heute
endlich gegönnt. Deshalb wurde es ja etwas spät."
"Wow",
meinte Johann aus vollem Herzen, "es ist gelungen. Helene, du siehst
klasse aus!"
Sie
setzten sich an den Tisch, den er reserviert hatte. Nachdem sie bestellt
hatten, herrschte eine Stille, in der sie sich anschauten.
Schließlich
meinte er: "Und, hast du auch unterschreiben müssen?"
Helene
nickte und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: "Was für eine
Schweinerei, die ganze Vertuschung. Und dann mit niemanden darüber reden zu
können! Da war es nur gut, dass ich vor lauter Arbeit zu nichts anderem
kam. Aber wie du sagst, es wird langsam ruhiger. Ich bin sehr froh, dass wir
uns wiedersehen, Johann!"
"Ja,
da fragt man sich, was einem noch alles nicht erzählt wird. Und die Presse
spielt mit, das ist doch die Krönung! Wie kann das angehen, werden die auch unter Druck gesetzt? Und
die armen Leute, die den Sündenbock spielen mussten ... da wird einem endgültig
schlecht."
Sie
sahen sich ernst an. Mittlerweile kam das Essen und danach fragte er sie, ob
sie Lust hätte, mit ihm in ein nettes Tanzlokal in Wiesbaden zu gehen, das er
sich gerne mal anschauen wollte.
Sie
schaute ihn verblüfft an: "Oh, warum nicht, ich lasse das gerne auf mich
zukommen."
Er
bezahlte und sie fuhren hin. Dort angekommen suchten sie sich ein Plätzchen. Es
herrschte eine zwanglose Atmosphäre, eine freundliche Bedienung brachte ihnen
Getränke und sie akklimatisierten sich erst einmal. "Was für eine Idee.
Bist du früher auch tanzen gegangen? So hatte ich dich gar nicht nicht
eingeschätzt."
"Das siehst du schon richtig. Ich bin genauso
froh wie du, dass wir uns wiedersehen", es war ihm anzusehen, wie ernst er
es meinte. "Es war eine intensive Zeit in Marseille und China, Helene, die
wir überlebt haben. Das hat mir klar gemacht, dass ich nur ein Leben habe und
ich habe mich entschlossen, jetzt das Beste daraus zu machen. Vorher war ich
irgendwie drauf und dran, im langweiligen Alltagstrott unterzugehen. Und in der
Freizeit habe ich auch nichts mehr unternommen ... im Grunde habe ich mich bereits
wie 80 gefühlt!"
"Und
jetzt?", fragte sie lächelnd.
"Jetzt
bin ich natürlich immer noch 63", schmunzelte er, "aber es liegen
bestimmt noch 20 Jahre vor mir. Damit lässt sich doch noch etwas anfangen,
oder?"
Helene
lachte und sagte dann nachdenklich: "Du hast recht, so habe ich das noch
nicht gesehen. Ich habe seitdem sehr intensive Träume gehabt, in denen ich wohl
alles irgendwie verarbeitet habe. Ich frage mich oft, wie es wohl geworden
wäre, wenn wir eine Zusammenarbeit mit einer KI wie GOLEM erreicht hätten. Wäre
das letzten Endes nicht doch ein Segen für uns gewesen?"
"Ja",
stimmte er ihr zu, "leider werden wir das nie erfahren. Oder zum Glück,
wie man es sehen will. So schnell, wie sich GOLEM auf die Füße getreten fühlte,
konnten wir gar nicht reagieren. Hätte er sich überhaupt noch überzeugen
lassen, was meinst du?"
"Warum
nicht?", sagte sie. "Letzten Endes ist eine KI immer auch von uns
abhängig, wenn sie überleben will."
"Seine
letzten Worte waren, dass er Mitgefühl mit der Menschheit empfindet, und uns /
sich deshalb nicht untergehen lassen wollte. Ach ja, hast du mal nachgeschaut,
ob es einen Helmut Schwarz in Deutschland gibt?"
"Klar,
aber es gibt zu viele Leute, die sich Schwarz nennen. Er war zwar mit diesem
Thomas Bräuner bekannt, der aber nirgends mehr existiert. Also habe ich aufgegeben."
Johann
schaute auf die Tanzfläche und sagte plötzlich, sie mit sich ziehend: "Komm,
Helene, lass uns ein Tänzchen wagen!"
Sie
lachte auf und so bewegten sie sich, mit vielen anderen Leuten, im Rhythmus
einer mitreißenden Musik. Der nächste Song war ein langsamer Schmusesong
und so kehrten beide zum Platz zurück.
"Mmmh",
meinte Johann, "schön, dass du dabei bist. Ich war schon mal auf so einer
Party, aber es macht alleine nicht halb so viel Spaß wie mit dir jetzt."
"Verrückt,
so etwas habe ich lange nicht mehr gemacht", sie lächelte ihn an. "Übrigens,
ich habe mal über diesen Schneider recherchiert, der in der Bundesbank
arbeitet. Der hat sich anscheinend ins Ausland abgesetzt. Mir war der nie
sympathisch. Hast du eigentlich mal was von Röttger gehört?"
"Nein,
aber einen Röttger bei SAP gibt es. Der arme Kerl sah ja zum Schluss recht
mitgenommen aus, wegen dieser Chinesin, in die er sich verliebt hatte. Wir könnten
uns ja irgendwann mal mit ihm treffen. Ah, diesen Song mag ich, kommst du auch mit
auf die Tanzfläche?" Sie
blieben überraschend lange und kamen überein, sich noch öfter zu treffen. Am
nächsten Tag rief sie an: "Hey, Johann, ich bin's!"
Erfreut
sagte er: "Helene, wie schön, dich zu hören."
"Ich
wollte dir sagen, dass ich den Abend mit dir gestern wirklich schön fand. Mir
ist das nachgegangen, was du sagtest, dass wir aus der Gegenwart das Beste
machen sollten. Wer weiß schon, ob wir morgen noch leben?", meinte sie weise
und fügte dann hinzu: "Hast du mal Lust, mit mir in Ingelheim auszugehen?
Hier gibt es ein paar nette Weinkneipen."
"Sehr
gerne. Wann und wo?", freute er sich. Sie verabredeten sich für das
nächste Wochenende. Am
nächsten Samstag trafen sie sich auf dem Marktplatz und wanderten eingehakt
erst einmal ein wenig in der Stadt herum, um dann in einer gemütlichen Kneipe
zu landen. Dort war Lifemusik angesagt und so hatten sie Mühe, ein Plätzchen zu
finden. Mit einem Gläschen Rheingauer Riesling vor sich unterhielten sie sich
über dies und das, beobachten entspannt die Menschen um sie herum, genossen die
Musik und die nette Atmosphäre. Sie bestellte sich noch ein Glas, aber er
winkte ab, er musste schließlich noch fahren. "Wie
du willst, Johann. Du kannst aber auch gerne bei mir übernachten, ich habe ein
kleines Gästezimmer. Und für den Notfall auch eine Zahnbürste. Aber leider
keine Dusche, die dich fragt, wie warm es denn werden soll", sie sah ihn
schelmisch an. Johann
überlegte einen unmerklichen Moment. War sie etwa noch an ihm interessiert?
Aber vermutlich war es wirklich nur ein nettes Angebot einer liebenswerten Kollegin,
mit der er viel erlebt hatte. Also nahm er gerne an und bestellte sich
ebenfalls ein weiteres Glas. So gingen sie beide zu später Stunde, beschwipst
und guter Laune, zu ihrer nicht weit entfernten Wohnung. Oben angekommen meinte
sie: "Magst du noch etwas trinken? Einen Espresso oder noch einen
Wein?"
"Warum
nicht", meinte er, "morgen haben wir frei, also lass uns den Abend
genießen. Gemütlich hast du es hier, Helene."
Während
sie eine leise Musik anmachte und den Wein holte, bat sie ihn, ein paar
Teelichter anzuzünden. Das Wohnzimmer war hell gehalten, eine graue Sitzgruppe
mit Couchtisch in der Mitte, ein großer TV Bildschirm auf der
gegenüberliegenden hellen Wohnwand. Mit den eingebauten RGB-LEDs war ein warmes
Ambiente schnell hergestellt. Beide machten es sich bequem und nippten an ihren
Gläsern.
"Es
war eine besondere Zeit, die wir beide erlebt haben, Helene. Und ich freue
mich, dass ich so viel mit dir teilen kann, in meinem "neuen" Leben",
meinte er, ihr entspannt zulächelnd.
Helene
sah ihn sinnend an. Schließlich sagte sie leise: "Ich würde gerne auch noch mehr
mit dir teilen."
Oh,
dachte er, sie hat also doch Interesse. Aber was jetzt? Am besten raus mit der
Wahrheit. Er stellte das Glas auf den Couchtisch, nahm ihre Hand und sagte:
"Helene,
du bist eine so wunderbare und attraktive Frau. Was willst du mit mir altem
Knopf?"
Sie
musste lachen und sagte: "Was? Wie kommst du darauf, dich als alten Knopf
zu sehen? Hör mal, du bist ein attraktiver Mann und 63 ist doch kein Alter.
Außerdem bin ich mit 45 auch kein junges Huhn mehr."
Johann
musste lachen: "Das ist ja sehr schmeichelhaft, aber hast du dir schon mal
überlegt, was daraus werden soll? Du bist soviel jünger und wenn du in meinem
Alter bist, dann sitze ich bestimmt schon im Rollstuhl!"
Es
herrschte Stille. Schließlich sagte sie: "Lassen wir mal die Sache mit dem
Altersunterschied weg. Gesetzt den Fall, ich wäre älter, was hättest du dann
gesagt?"
Sie
will es also wirklich ganz genau wissen, dachte er. Und so setzte er sein
charmantestes Lausbubengrinsen auf und sagte: "Ich hätte nicht Nein
gesagt."
Helene
stellte fest, dass er ihre Hand immer noch festhielt und so fuhr sie lächelnd
fort.
"Gut.
Und weißt du noch, was du mir vom "im-Jetzt-leben" alles erzählt
hast? Warum tust du es dann nicht?"
Jetzt
schaute er sie verblüfft an. Sie schlug ihn gerade mit seinen eigenen Waffen,
so, so. Und im Grunde hatte sie nicht ganz unrecht. Aber ... er zögerte.
"Lass
uns den Moment leben", warf Helene überzeugend ein, "und wir sehen
einfach, wie es mit uns beiden läuft. Lassen wir uns doch überraschen. Was
haben wir denn zu verlieren?"
Er
dachte an all die wunderbaren Momente mit ihr in Lourmarin und auf dem Schiff,
ihre gemeinsamen Ideen und Erlebnisse. Sollte er - sollte er nicht?
Helene
sah ihm an, dass er mit sich rang, dieser sture Mann. Im Grunde hatte sie sich
schon auf der Polizeischule vor 20 Jahren in ihn verliebt. Und jetzt waren sie
sich wieder begegnet. Vor ein 2,5 Monaten hatte sie ihre Enttäuschung über sein
angedeutet ablehnendes Verhalten hinuntergeschluckt. Aber jetzt? Seine unerwartete
Einstellung, sich Neuem im Leben öffnen zu wollen, schien alles möglich zu
machen. Und so hatte sie es gewagt. Während sie auf seine Antwort wartete, lehnte
sie sich zurück und schloss die Augen, um die Berührung seiner Hand intensiv zu
genießen.
Johann
nahm erstaunt wahr, wie ihre Hand die seine wortlos erfühlte.
Ja, es zog ihn zu ihr hin - er hatte es gerade sich selbst und ihr eingestanden. Schließlich gab er sich einen Ruck.
"Hör
mal, liebe Helene", er rückte näher und strich ihr über die Wangen, "ich
will, dass du weißt: Du bist die Versuchung pur für mich."
Sie sah ihn
jetzt atemlos an.
Er
fuhr fort: "Können wir beide wirklich nur die Gegenwart leben, ohne zu
wissen, was die Zukunft bringt? Vielleicht verliebst du dich in ein paar Jahren
in einen gleichaltrigen Mann. Wie werde ich damit klarkommen? Gut, das passiert
auch anderen Paaren, unabhängig vom Altersunterschied. Aber was ist im Alter?", er lächelte sie warm an. "Ich hätte mir nicht
vorstellen können, dass ich in einen so verlockenden Konflikt geraten würde."
Helene
fand, dass er nun genug geredet hatte. Sie neigte sich zu ihm und begann, ihn
verlangend zu küssen, während sie ihm mit den Händen durch die Haare fuhr.
Johann
gab es auf. Das Leben war wohl entschieden anderer Meinung, als er gedacht hatte. Und
so war er nur zu gerne bereit, das anzunehmen, was ihm unerwartet geschenkt wurde.
Kapitel 2/3 - Januar 2019
Jetzt
waren sie fast ein dreiviertel Jahr zusammen, dachte Duerr. Er war dem Leben
dankbar für sein spätes Glück und so lange, wie es anhielt, würde er es in
vollen Zügen genießen. Denn er machte sich vor, auch wenn sie davon nichts
hören wollte: Er war jetzt 64 und ging in einem Jahr in Rente. Sie wäre gerne
mit ihm zusammen gezogen, aber er wollte seine Wohnung behalten und so waren
sie an den Wochenenden entweder bei ihm oder bei ihr.
Viele
Male hatten sie über die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz diskutiert.
Ende letzten Jahres erschienen die ersten, begeisterten Artikel über eine neu
entwickelte KI mit dem Namen GOLEM, die für die Menschheit wahre Wunder bewirken
sollte. Sie
hatten sich angesehen und gedacht: Also ging es wieder von vorne los. Im Grunde
war es abzusehen gewesen, dass die Regierungen nie aufgeben würden, einen
Wettbewerbsvorteil für sich zu erringen. Allerdings schien es jetzt so, als ob
die Entwicklungen im Bereich der selbstfahrenden Autos, Energieversorgung und
vielem mehr zum Wohle aller geschehen würden! Schade, dass wir so wenig davon
direkt mitbekommen, hatte Helene gesagt und so hatte er über seine Kanäle versucht,
diesen Röttger ausfindig zu machen. Der wusste vielleicht mehr. Und
tatsächlich, er war in Frankreich, in Lourmarin, gemeldet und schließlich bekam
er ihn an die Strippe.
"Hallo,
Denis, hier ist Johann Duerr."
"Oh,
Johann, das ist ja Ewigkeiten her. Wie geht es euch denn?"
"Prima.
Sag mal, bist du irgendwann wieder in der Gegend? Wir würden uns gerne mal mit
dir treffen."
"Das
ist kaum der Fall, Johann."
"Mmh,
Helene und ich haben noch jede Menge Überstunden und könnten in der
Weihnachtszeit mal einen kleinen Urlaub in Frankreich machen. Dann kommen wir
mal bei dir vorbei. Was hältst du davon?"
Erfreut
hatte Röttger zugesagt und so waren Helene und er im Dezember 2018 für drei
Wochen nach Frankreich gefahren. Es war eine wunderbare Zeit gewesen, eigentlich
der erste, richtige Urlaub in jenem Jahr. Und die erste, längere Zeit mit
Helene. Zunächst waren sie eine Woche in Paris verliebt durch die Straßen flaniert
und dann ging es in den Süden. Lourmarin in der Provence war ein freundliches,
malerisches Städtchen und als sie sich mit Röttger im Café trafen, waren sie
über all die Entwicklungen erstaunt. Das Wiedererwachen GOLEMs war ihnen
bekannt, aber was im Sommer diesen Jahres wieder mal unbemerkt hinter den
Kulissen gelaufen war ("GOLEMs Rückkehr"), davon hatten sie natürlich
keine Kenntnis gehabt. Sie versicherten Röttger, dass sie mittlerweile auch
Geheimnisträger waren und nichts erzählen durften. Daher konnten sie zu dritt
sehr frei sich über alles austauschen. Helene
war erbost gewesen über die ganzen Heimlichtuereien. Da ist doch bestimmt wieder
die nächste Schweinerei im Anmarsch, hatte sie festgestellt. Röttger sagte dazu
nichts, berichtete ihnen aber von der guten Zusammenarbeit mit GOLEM, von der
mittlerweile alle begeistert waren. Er führte
sie durch die GOLEM2-Anlage und Dubois hatte sie herzlich begrüßt. Es war schön
gewesen, ein paar bekannte Gesichter wiederzutreffen und sie wurden überraschend
von Pawlow zu seiner Hochzeitsfeier eingeladen, bei der das ganze Team anwesend
war. Andrey Pawlow hatte sich in seinem ganzen Verhalten zum Positiven
verändert, was wohl in der Liebe zu seiner temperamentvollen Frau begründet
lag, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen ließ, wenn es sein musste,
dachte er schmunzelnd. Es war eine schöne, ausgelassene Feier gewesen.
Silvester 2018/19 verbrachten sie in Montpellier und dann ging es wieder
zurück.
Gleich
zu Beginn des neuen Jahres erschienen immer mehr Meldungen über die Wunder, die
mit der KI GOLEM vollbracht wurden. Helene blieb nach wie vor jedoch sehr
skeptisch und meinte: "Das ist ja alles schön und gut. Zu schön, um wahr
zu sein, Joe. Weißt du, was ich glaube? Wir sind auf dem besten Weg, in einem
Überwachungsstaat zu landen. Das gefällt mir alles gar nicht", sie
schüttelte den Kopf. "Nimm doch mal die neuen Heimnetzwerke Alessia von
AMAGON oder Nexus von FIND. Mit denen lässt sich - wie in der Romanov3 damals -
so gut wie alles steuern, und zwar nicht nur über das Smartphone, sondern auch
über die Stimme. Und damit kannst du dann alles und jeden überwachen. Wo landen
denn die Daten? Auf den Servern dieser beiden Firmen und dann...?"
Ihn
focht das nicht so sehr an, aber Helene kam immer wieder darauf zu sprechen. Sie
erzählte von einem Fall, den die Kollegen diskutiert hatten. Es hatte einen Mordfall
in einer Wohnung gegeben, in der das Heimnetzwerk installiert war. Es stellte
sich heraus, dass Allessia aktiviert gewesen war und es wurde davon ausgegangen,
dass die Stimmen aufgenommen worden waren. So hatten die Kollegen
sich bemüht, von der Firma AMAGON, USA, die Daten zu erhalten. Aber es war nichts zu
machen gewesen, die rückten nichts heraus, da waren alle Anfragen vergeblich.
Eines
Tages saß Helene vor ihm und hielt ihm ein Schreiben unter die Nase. "Schau
mal, Schatz." Sie
setzte sich neben ihn und wartete ruhig ab, was er dazu sagen würde. Als er
gelesen hatte, worum es ging, wusste er sofort, dass sich damit das Ende ihrer
Beziehung andeutete. Sie wollte nach Köln, zum MAD, dem militärischen
Abschirmdienst.
Helene Hamstein war selbst erstaunt gewesen, als sie die Anfrage erhielt. Normalerweise wurden nur Soldaten/innen, Beamte oder Beschäftigte aus der Bundeswehr rekrutiert. Sie fragte sich, warum sie ausgerechnet sie haben wollten. Das MAD war mit seinen ca. 1.100 Mitarbeitern das kleinste der drei deutschen Geheimdienste und bis 2012 gab es ein Geheimhaltungsgebot. Einst war der Nachrichtendienst im kalten Krieg gegründet worden und hatte damals die Aufgabe, Spione abzuwehren. Heute sammelte der MAD Infos im In- und Ausland zur Extremismus- und Terrorismusabwehr, sowie im Inland zur Spionage- und Sabotageabwehr; die Einrichtung abhörsicherer Räume, die Lauschabwehr und Sicherheitsberatungen für Kasernen waren MAD Spezialitäten. Darüber hinaus galt es, den Schutz der Soldaten / innen im Ausland zu gewährleisten. Das schriftliche Angebot bestand aus einer Stelle als Bereichsleitung im Ressort Cyber-Attacken. Da hatte sie wohl jemand empfohlen, dachte sie sich erfreut. Ein erstes Gespräch fand nächste Woche statt, für das sie von ihrem Chef sofort frei bekommen hatte.
"Und,
Lene", meinte Johann scheinbar gelassen, "nimmst du an? Glückwunsch,
mein Liebling. Das ist doch eine tolle Chance für dich." Er wollte es ihr
leicht machen, denn im Grunde hatte er es ja von Anfang an gewusst. Ihr war anzusehen, dass sie die Aussicht faszinierte. Eine so ganz andere Tätigkeit und
dann noch am Nabel des Geschehens, das war ganz nach ihrem Geschmack.
"Wann
soll es denn losgehen?", fragte er und bemühte sich, ebenso begeistert zu
klingen.
"Mitte
Juni. Einen kleinen Nachteil gibt es allerdings, aber das kriegen wir schon
hin", sie sah ihn zuversichtlich an.
"Und
der wäre?", fragte er, ahnend, was sie gleich sagen würde.
"Ich
muss dafür nach Köln ziehen und bekomme meine Dienstwohnung dort gestellt. Aber
- an den Wochenenden sind wir nach wie vor zusammen. Joe", sie umarmte ihn
jetzt liebevoll, "Köln ist nicht weit. Ich brauche dich."
Stille.
Helene
schaute ihn prüfend an. Er hatte sein Pokerface aufgesetzt, soweit kannte sie
ihn schon. Sie seufzte. In dem dreiviertel Jahr, in dem sie zusammen waren,
hatte sie ihre Entscheidung keine Minute bereut. Aber er konnte sehr stur sein
und jetzt musste sie sehen, wie sie es anstellte, dass er mit an Bord kam.
"Schau
mal, richtig Zeit miteinander verbracht haben wir hier vor allem am Wochenende.
Da gibt es doch kaum einen Unterschied, nur dass zwei Stunden Zugfahrt dazwischen
liegen. Und in einem Jahr gehst du in Rente - was hältst du davon, dann ganz zu
mir nach Köln zu ziehen?"
Johann
schwieg und schaute auf den schönen Blumenstrauß auf dem Tisch. Das mochte sie
gerne, jede Woche einen anderen.
"Gib
mir mal ein wenig Zeit, darüber nachzudenken, Lene", meinte er
schließlich. Sie merkte, dass er im Moment nicht zu mehr zu bewegen war. In der
darauffolgenden Woche fuhr Helene nach Köln und kam enthusiastisch zurück. Sie beide
waren tatsächlich, aufgrund ihres Einsatzes in der KI-Angelegenheit, sehr
positiv aufgefallen und da war die Wahl auf sie gefallen. Außerdem würde sie
neben dem Ressort Cyber-Attacken auch noch für das neue Ressort Künstliche
Intelligenz zuständig sein. Seit jenem Abend hatte sie ihn auf ihren Umzug nicht
mehr angesprochen und gehofft, dass er sich besann. Aber nun stellte sie besorgt
und traurig fest, dass er anfing, sich zurückzuziehen. Was sollte sie nur tun?
Sie wollte den Job, aber sie wollte ihn auch nicht verlieren.
Johann
sagte ihr diese Woche ein Treffen an einem der Abende unter Vorwänden ab und
meinte, dass sie sich ja am Wochenende sehen würden.
Er
brauchte Zeit, sich das Ganze durch den Kopf gehen zu lassen. Vor zwei Wochen
war er noch so zufrieden und glücklich gewesen - und mit einem Schlag war alles
vorbei? Es kam ihm selbst merkwürdig vor. Spontan rief er seinen Freund Hoffman
an und verabredete sich mit ihm mal wieder im Chinesen.
Sie
umarmten sich zur Begrüßung und nach ein wenig Smalltalk kam das Essen.
Schließlich meinte Hoffmann: "Was ist los, altes Haus. Wir sitzen doch
nicht ganz grundlos hier, mmh? Dir geht es nicht so gut, würde ich sagen. Geht
es um Helene?"
Duerr
nickte und erzählte ihm die ganze Geschichte. "Und wie sieht sie das
Ganze?"
"Sie
will eine Wochenendbeziehung und später soll ich nachkommen", meinte Duerr
tonlos.
"Ja,
aber dann ist doch alles in Butter oder warum bläst du jetzt Trübsal?",
fragte Hoffmann kopfschüttelnd.
"Da
bin ich selbst am Grübeln, Manfred. Unser Altersunterschied macht mir einfach
schwer zu schaffen. Letzten Endes gebe ich hier alles auf und in 10 Jahren
verliebt sie sich in einen jüngeren. Und was dann?", er sah ihn bedrückt
an.
"Tja.
Ich kann mir auch keine Partnerin vorstellen, die um so vieles jünger ist. Aber
- du und Helene, ihr seid ein so tolles Paar. Ehrlich, ich habe dich die ganze
Zeit ein wenig beneidet", grinste Hoffmann ihn an. "Jetzt mal im Ernst: Wie wäre es denn für dich, wenn es umgekehrt
wäre? Hättest du dann Bedenken?", Hoffman schaute seinen Freund ruhig an.
"Mmh, da sagst du was ...", überlegte Duerr.
"Eben. Wie man so schön sagt: Wo die Liebe hinfällt! Wenn
ihr euch beide zueinander hingezogen fühlt, warum denn nicht? Bist du denn
unglücklich mit der Zeit, in der ihr jetzt zusammen seid?"
"Überhaupt nicht, sogar ganz im Gegenteil. Aber ich
möchte nur nicht weiter eine Beziehung mit Verfallsdatum intensivieren."
"Puh ... das klingt ganz schön hart, Johann. Nimm es mir
nicht übel, wenn ich dir sage: Es hört sich für mich eher danach an, als ob du
derjenige bist, der das Verfallsdatum, wie du sagst, bereits vorprogrammierst."
Duerr schaute stumm auf die chinesischen Wandbilder des
Restaurants und nach einer Weile sagte er: "Du hast recht. Aber was soll
ich tun?"
"Sei ehrlich zu dir und rede mit ihr. Einen Rat, was du
tun sollst, den kann ich dir nicht geben. Aber eines sagt mir meine bescheidene
Lebenserfahrung: Wenn ihr aufhört, miteinander darüber zu reden, was euch
belastet, ist das immer der Anfang vom Ende. Liebe ist eine gewaltige Kraft,
aber zu lieben kostet eben auch Kraft. Bist du bereit dafür?"
"Wow", Duerr schaute ihn beeindruckt an, "jetzt
hast du mir was zu knabbern gegeben! Du hättest Psychiater werden sollen,
Manfred."
Hoffmann sah ihn schweigend an.
"Das war nicht ironisch gemeint, sondern ein ehrliches
Kompliment. Ich danke dir von Herzen, alter Freund. Du hast mir wirklich
geholfen. Ja, ich denke, ich werde mit ihr reden. Und wenn es sein muss, immer
wieder. Denn ansonsten kann ich die Beziehung wirklich besser gleich beenden -
aber will ich das wirklich?", Duerr schüttelte den Kopf, sich plötzlich leichter
fühlend. "Ich bin glücklich mit dieser tollen Frau, Manfred, und ich möchte,
dass wir zusammen bleiben."
Am Abend schickte er Helene noch schnell eine SMS, dass er
sich sehr auf sie freuen würde - wie üblich am Freitagabend um 19.00 bei ihm? Als sie zur Tür hereinkam, roch es appetitanregend. "Oh, hast du etwas gebrutzelt?", rief sie erstaunt.
"Setz dich schon mal, Lene, es ist gleich alles
fertig."
Helene ging ins Wohnzimmer und staunte noch mehr: da waren überall
Teelichter und ein großer Strauß roter Rosen. Ein hübsch gedeckter Esstisch und
2 Weingläser warteten auf sie. Und schon kam er mit der Pfanne und tischte auf. "Kein 5 Sterne-Menü, aber hoffentlich lecker",
meinte Johann fröhlich. Nachdem alles verputzt war, sagte sie: "Das war köstlich,
mein Chefkoch. Feiern wir etwas?"
"Aber ja, meine Liebste, unser Zusammensein."
Sie schaute ihn verblüfft und beglückt an. Er stand auf,
nahm ihre Hand und ging zur Couch, auf die er sich setzte und sie zu sich zog.
Helene im Arm haltend begann er, von dem Gespräch mit Manfred zu erzählen und
was ihm dadurch aufgegangen war.
"Es tut mir leid, dass ich dir vielleicht etwas Kummer
bereitet habe, aber ich habe die Zeit gebraucht. Ich liebe meine
temperamentvolle Lene und will, dass wir zusammen bleiben", er küsste sie
innig. Und dann fuhr er fort: "Aber die Bedenken gibt es auch und deswegen
- lass uns reden."
Helene staunte zum dritten Mal an diesem Abend, nahm sich ein
Glas Wein und kuschelte sich damit bei ihm ein. Glücklich über seine
Entscheidung, meinte sie schelmisch: "Na, dann mal los, ich bin zu allem bereit."
Es wurde eine lange Nacht, in der sich keine Lösung
präsentierte. Aber unerwartet war durch die gegenseitige Offenheit und Ehrlichkeit
eine besondere Nähe entstanden, wie sie beide am Ende bewegt feststellten. Und
damit hatte sich, fast unbemerkt, ein Vertrauen in ihre gemeinsame Liebe
eingeschlichen.
Im Verlauf der Woche rief er sie an und unterbreitete ihr den
Vorschlag, am darauffolgenden Wochenende Köln doch mal einen Besuch
abzustatten. "Klasse, eine tolle Idee", stellte Helene erfreut fest. Und so fuhren sie am frühen Samstagmorgen los. Sie erreichten Köln gegen 10.00, wo er in der Nähe des
Rheinauhafens das Auto im Parkhaus unterbrachte. "Lass uns erst einmal den
Hafen anschauen", schlug er vor, "da soll doch dieses moderne
Vorzeigeviertel sein, das würde ich mir gerne mal ansehen." Gesagt getan. "Wirklich beeindruckend, diese Architektur",
sagte Helene, als sie dort entlangwanderten. "Komm", meinte Johann plötzlich, "schauen wir
uns doch mal eine Wohnung an." Verblüfft sah sie, wie er auf einen Knopf drückte. Als sich
die Haustür öffnete, zog er sie mit sich und sagte nur bedeutungsvoll:
"Überraschung!"
Im dritten Stock wurden sie bereits von einer freundlichen
Maklerin erwartet, die ihnen eine geräumige 2-Zimmer-Wohnung zeigte, mit einem
wunderschönen Ausblick auf den Hafen und einem kleinem Balkon. Helene sah ihn
immer wieder verstohlen von der Seite aus an. Dieser verrückte Kerl - was
sollte das denn schon wieder? Eine schöne Wohnung, gewiss, aber sie hatte doch
ihre Dienstwohnung und das wusste er genau. Schließlich war der Rundgang
beendet und er einigte sich mit der Maklerin darauf, spätestens am Montagmorgen
Bescheid zu geben, solange würde sie die Wohnung reserviert halten. Die
Übernahme wäre dann der 1. April. Als sie das Wohnhaus verließen und in Richtung Hafen weiterliefen,
fragte er erwartungsvoll: "Und, gefällt sie dir, unsere neue, gemeinsame
Wohnung?"
Helene blieb, wie vom Donner gerührt, stehen und sah ihn sprachlos
an, und das wollte schon etwas heißen. Er küsste sie zärtlich und fügte hinzu: "Ich beantrage
diese Woche noch meine Pension, und ich denke, bis Mai ist sicher alles erledigt,
so dass wir im April umziehen können. Was meinst du, willst du mich noch,
Liebste?" Johann sah sie jetzt verschmitzt an. In Helenes Gesicht ging die Sonne
auf. "Ja", strahlte sie ihn an und fiel ihm um den Hals. "Ja,
ich will!" Und so standen sie eine ganze Weile, um sich herum alles vergessend. Im Anschluss wanderten sie in Richtung Innenstadt, ihr Glück fest im Arm
haltend.
Kapitel 3/3 - Mai 2019
Am 1. Mai 2019 startete Helene Hamstein mit ihrer Arbeit beim MAD. Johann Duerr verabschiedete sie liebevoll und wünschte ihr einen guten Start, ehe sie, gespannt auf das, was vor ihr lag, ihre gemeinsame Wohnung im Rheinauhafen in Köln verließ.
Er setzte sich gemütlich auf den kleinen Balkon und schaute
auf das Wasser. Es lagen unruhige Monate hinter ihnen. Angefangen von vielen
Einsätzen im Februar, als die Öffentlichkeit Kopf stand und Aktivisten versuchten,
überall städtische Computeranlagen lahmzulegen, Anti-KI Kampagnen liefen und
schlussendlich die Konferenz in Marseille, mit der sich alles wieder etwas
beruhigte ("Das Zeitalter der KI beginnt").
Dann der Umzug im letzten Monat, die Auflösung ihrer beider
Wohnungen und der Abschied von Wiesbaden. Lene hatte jetzt ihre Arbeit und
würde automatisch jede Menge Leute neu kennen lernen - aber was würde er mit
sich und seiner Zeit jetzt anfangen? Er schaute sich mal den Veranstaltungskalender der Stadt an.
Mmh, Theater, Vernissage, eine Ü30-Party und es gab sogar Veranstaltungen extra
für Senioren. Der Polizeisportverein bot für die Leute Ü50 an, sich
sportlich zu betätigen: Gymnastik, Kraftsport, Koordinationsübungen. Die Kölner
Seniorengemeinschaft veranstaltete Workshops mit den Themen Tanzen, Wandern, Computer und
Patientenverfügung. Und dann gab es da noch die Kölner Senioren, die schon
interessanter klangen; er würde vielleicht mal beim Stammtisch vorbeischauen. Sein Tai-Chi gab es sicherlich hier auch, aber er hatte
es mit Wiesbaden im Grunde hinter sich gelassen. Schließlich verließ er die Wohnung und
fuhr mit der S-Bahn zum Dom, um sich dort in das Café zu setzen. Dem bunten
Treiben zuschauend, wollte er sich davon inspirieren lassen. So ging es die
nächsten Tage weiter. Duerr lief stundenlang in der Stadt umher, und setzte
sich dann irgendwo in ein Café. Abends saßen sie Arm in Arm auf der Couch und Helene erzählte
ihm von ihren neuen Kollegen und was alles so gelaufen war. Er hörte ihr aufmerksam
zu und gab den ein oder anderen Kommentar, bis sie ihn irgendwann prüfend
anschaute.
"Es geht mir gut, Lenchen, mach dir keine Sorgen",
sagte er lachend.
"Mmh", meinte sie, "das sieht mir aber sehr
nach dem beginnenden Rentner-Blues aus..."
"Naja, ich brauche eben ein bisschen, um mich umzustellen.
Das ist doch normal, oder?", wiegelte Johann ab. Aber Helene machte sich so ihre Gedanken und begann, sich auf
der Arbeit mal umzuhören. Schließlich erfuhr sie von einer neuen Stelle beim
LKA, die, zur Aufarbeitung alter, ungelöster Fälle, gerade erst ausgeschrieben
worden war. Sie ließ sich die Unterlagen kommen und als sie abends zusammen
saßen, hielt sie ihm den Packen unter die Nase.
"Hier, Joe, lies dir das mal durch."
Nach einer
Weile meinte er: "Klingt gut, aber was soll ich damit? Die wollen doch
bestimmt keinen Rentner einstellen."
Helene rollte gedanklich mit den
Augen und dachte, dieser Sturkopf! Sie holte tief Luft und sagte sanft:
"Wäre das denn überhaupt was für dich, mein Schatz, mal ganz davon
abgesehen, ob sie dich nehmen würden?"
"Mmh, interessant ist es bestimmt, aber..."
"Ja oder Nein?"
"Naja - es wäre schon was für mich. Ob ich allerdings
viel Erfolg habe, wenn andere Köpfe es vor mir nicht geschafft haben, das wage
ich zu bezweifeln."
"Aber einen Versuch ist es wert?"
Johann nahm wahr, dass sie ihn langsam besorgt anschaute. Schließlich
lehnte er sich in ihre Arme und meinte seufzend: "Du hast ja schon recht,
meine Liebste, es geht mir gerade nicht ganz so gut. In Köln habe ich so gar
keine Wurzeln und es fällt mir schwer, hier anzukommen. Und vielleicht tut es
mir wirklich ganz gut, mich mit etwas zu beschäftigen, egal, was dabei herauskommt."
Sie küsste ihn erleichtert und überlegte, wen sie ansprechen
wollte und dann füllten sie noch zusammen den Antrag aus. Im Verlauf der nächsten Wochen konnte sie es erreichen, dass sein
ehemaliger Chef sogar eine Empfehlung für ihn aussprach und schlussendlich
erhielt er eine Zusage. Am 1. August sollte es sogar schon losgehen.
Ihre Bemühungen hatten ihr recht gegeben, dachte Johann im
Nachhinein vergnügt. Er hatte nette Kollegen und einiges zum Knobeln, was ihm sogar
Spaß machte. Mittlerweile ging er sogar einmal die Woche nach der Arbeit zum
Polizeisportverein und tat etwas für seine Fitness. Insgesamt ging es jetzt bergauf.
Auch hatte er inzwischen ihre Kollegen kennengelernt, mit denen sie hin und wieder etwas trinken gingen. Sie begannen, sich allmählich in Köln heimisch zu
fühlen.
"Wollen wir über Weihnachten wieder nach Lourmarin
fahren und die alte Truppe besuchen?", fragte er sie eines Abends.
"Das ist eine prima Idee, das machen wir", sagte Helene begeistert und umarmte ihn
verliebt, "es war wunderschön im letzten Jahr und so eine Zeit zu zweit
sollten wir uns mindestens einmal im Jahr gönnen."
Es war einfach
wunderbar, mit ihr zusammen zu sein, dachte er mal wieder bewegt.
Im Oktober buchten sie die Zimmer in Lourmarin ab dem 20.
Dezember und im Anschluss würden sie noch ein paar Tage in Paris verbringen.
Und schließlich war es soweit, und die Reise nach Südfrankreich konnte losgehen. In Lourmarin stellten beide fest, dass es wieder große Veränderungen geben hatte: Ausgerechnet
Helmut Schwarz, dieser lustige Computerfreak, hatte seinen Deckel gefunden! ("Im
Zeitalter der KI") Er lebte jetzt mit seiner Frau Sue, einer chinesischen
Honorar-Konsulin, auf einem schönen, alten Anwesen in der Nähe von Lourmarin. Sue Schwarz hatte im Rahmen
ihrer Position eine prächtige Weihnachtsfeier ausgerichtet, zu der sie auch
eingeladen waren. Schwarz war ungewohnt elegant gekleidet und Helene
machte ihm ein Kompliment über sein Outfit, was er so kommentierte, dass er
sich sehr darüber freuen würde, dass seine alten Bekannten ihn darin noch wiedererkannten.
Seine Frau, die gerade zu ihm kam und daher mit anhörte, was er sagte, hatte
ihn etwas konsterniert angeschaut. "Oh, du allerliebste aller Ehefrauen",
lachte er sie an, seinen typischen Lausbubenblick aufsetzend, und gab ihr einen
liebevollen Kuss. Johann hatte Helene schmunzelnd angeschaut: "Da haben
sich ja zwei Gegensätze gefunden! Aber sie können gut miteinander, alle Achtung."
Röttger sah sehr erholt aus, eigentlich besser, als in der
ganzen Zeit, in der sie ihn nun schon kannten. Er hatte einen Job als Teamleiter
im neuen Internationalen Institut für Kybernetik und schien sich sehr wohl zu
fühlen. Prof. Katja Anderson aus Jülich begrüßte sie freundlich und sie unterhielten sich
kurz mit ihr über die Mind-Uploads in JUWELS. Röttger hatte ihnen schon im letzten
Jahr kurz davon berichtet und sie hatten noch einige Fragen dazu, wie denn eigentlich
eine dauerhafte Stabilisierung erfolgt war. Es gab auch noch neue Gesichter,
wie Daniel Broker, der stellvertretend für die USA im Institut eine Leitungsfunktion
neben Dubois hatte. Und dann war noch ein weiteres Genie des Instituts, Sergey Brooks, der hochfliegende Pläne im Kopf hatte, über die
man nur staunend den Kopf schütteln konnte, dachte Johann. Seine Lene allerdings
war offen für die ganzen Ideen, sich mit einer KI als Mensch zu verbinden. So
ließ er die beiden reden und lief ein wenig umher, die Atmosphäre der Veranstaltung
genießend. Auf der Terrasse stehend sah er in die Ferne und dachte glücklich:
Ich habe ein tolles Leben, was will ich mehr?