Herbert König-Jan Meier-Sue Kögel

09.03.2019

20. Juni 2018, Jülich - Digitalisierte Bewußtseine (Mind-Uploads) im Supercomputer JUWELS, aus dem Buch "Golems Rückkehr" 

Als Herbert König in seinem Studentenzimmer aufwachte, gähnte er und stieß erst einmal seinen morgendlichen Juchzer aus. Das Leben lag ihm zu Füßen und er war bereit. So stand er auf, ging ins Bad und schnappte sich den Rasierer. Nach der Dusche sah Herbert in den Spiegel, so wie jeden Morgen, und ihn beschlich plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass heute irgendetwas anders war als sonst. Aber so genau konnte er es nicht sagen, also holte er sich sein Müsli aus dem Kühlschrank, trank einen Espresso und machte sich auf den Weg.

Er radelte durch die Stadt zur Uni und dachte daran, dass sie gestern die Digitalisierung seines Gehirns, mitsamt allen Erinnerungen, Gefühlen und Erfahrungen fertiggestellt und auf JUWELS, den Supercomputer des Instituts, hochgeladen hatten. Er und zwei andere Studenten waren für das Experiment ausgesucht worden. Wow, hatte er gedacht - ein Bewusstsein zu digitalisieren? Was für eine faszinierende Vorstellung. Und dieses Experiment bot ihm eine gute Gelegenheit, Erfahrungen für seine berufliche Zukunft zu sammeln. Herbert hatte seine Ambitionen hoch gesteckt. Als Jugendlicher hatte er schon immer gerne herumgehackt und später begann er, sich für künstliche Intelligenz zu interessieren. Er wollte in die Forschung und die zukunftsträchtigen Entwicklungen mittragen, die gerade auf allen Ebenen begonnen hatten. Es war eine spannende Zeit und er war sich sicher, dass die Zukunft Überraschungen bereit hielt, die sich heute kaum jemand vorstellen konnte. Wie es seinem digitalisierten Bewusstsein wohl jetzt ging?

Durch die Uni gehend sah er, wie immer, viele Menschen an sich vorbeiströmen.
"Hi Thorsten!", rief er einem anderen Studenten zu, der gerade wortlos an ihm vorbeiging, ohne ihn weiter zu beachten. Er sah ihn jeden Morgen, aber heute war er wohl nicht so gut drauf. Naja, dem war wohl eine Laus über die Leber gelaufen. Kopfschüttelnd ging er weiter. Ah, da war der Hörsaal. Heute Morgen wollte er sich noch eine Lesung über Kybernetik zu Gemüte führen und dann ins Institut zu JUWELS fahren.
Er setzte sich in den leeren Saal und wartete, in seinen Unterlagen blätternd. Der Hörsaal füllte sich und das übliche Stimmengewirr war zu hören. Da erschien auch schon Prof. Wiesner. Nach zehn Minuten war er etwas verblüfft: Hatte Prof. Wiesner das nicht schon so ähnlich vor ein paar Tagen erzählt? Das war ja nun wirklich nichts Neues, was er da brachte. Anstandshalber blieb er noch eine viertel Stunde, bevor er aufstand und ging. Heute lohnte es sich nicht, da fuhr er lieber ins Institut. Bevor er aus dem Hörsaal ging, warf er noch einen Blick zurück - merkwürdig, war der Raum vorhin nicht voller gewesen? Da hatte er sich wohl getäuscht.
Herbert König wandte sich um und machte einen kurzen Umweg über die Bibliothek. Valerie würde sicher schon da sitzen und lernen - morgen war ihr Klausurtag und daher hatte sie ihre Ruhe haben wollen. Erwartungsvoll öffnete er die Tür und sah sie, über ihre Notizen gebeugt, an einem Tisch sitzen. Leise schlich er zu ihr und umarmte sie von hinten, ihr die Augen zuhaltend: "Rate, wer hier ist!" Er küsste sie aufs Ohr, roch den Duft ihrer Haare und wollte sie liebevoll küssen, was sie aber eher passiv geschehen ließ. Er stutzte: "Was ist los, Val? Hast du was?" Sie schien sich plötzlich umgedreht zu haben und lächelte ihn an. In dieses verträumte Lächeln hatte er sich schon verliebt, als er sie das erste Mal sah. "Hör mal, ich fahre jetzt ins Institut und später essen wir zusammen. Ich hole dich ab, mmh?" Er setzte sich neben sie und wieder tauchte dieses eigenartige Gefühl auf. Aber es war doch alles so, wie es sein sollte, dachte er irritiert. Herbert sah seine Freundin prüfend an und strich ihr über die Haare: "Du gefällst mir gar nicht, du arbeitest zu viel." Sie sah ihn still und lächelnd an. "Gut, dann lasse ich dich mal. Bis später, Süße."
Herbert erhob sich und ging aus dem Saal. Draußen holte er sich sein Rad und auf ging es durch die belebte Stadt. Neben einer roten Ampel stand ein schwarzer Van mit abgedunkelten Fenstern. War das nicht der, über den er sich gestern geärgert hatte, da er ihm die Vorfahrt genommen hatte? So ein Arsch. Er versuchte hineinzusehen, was aber nicht möglich war. Schließlich hatte er das Institut erreicht und ging in die Abteilung, in der er gestern gewesen war.
Prof. Langer erschien plötzlich vor ihm, begrüßte ihn und beglückwünschte ihm zum Erfolg des Uploads. Es lief grandios und dank seiner guten Mitarbeit erfuhr das Projekt gerade eine äußerst positive Wende. So gute Studenten wie er mussten gefördert werden, dafür würde er gerne sorgen. Seine Ideen und Vorschläge wären herausragend und, wenn er seinen Abschluss in der Tasche hatte, würde er ihn gerne hier im Institut sehen. Überrascht von soviel guten Neuigkeiten strahlte Herbert bis über beide Ohren. Denn das war etwas, was er sich insgeheim immer gewünscht hatte. Prof. Langer war eine Kapazität auf seinem Gebiet ... und endlich jemand, der sein Potential erkannte!

Herbert ging in den Raum, in dem gestern das Gehirn- oder Mind-Upload durchgeführt worden war und schaute auf das Terminal und den Überwachungsmonitor. Eigentlich müssten in den Gehirnarealen die entsprechenden Färbungen zu sehen sein. Gelb, grün ... alles schien in Ordnung.
Auf die Mitarbeiter des Instituts wartend, setzte er sich. Was hatte er eigentlich noch gestern Abend gemacht, dachte er plötzlich. Mmh, daran hatte er keine Erinnerung und wieder überkam ihn ein Gefühl, das an eine Gänsehaut erinnerte. Aber er bekam nicht wirklich eine, registrierte er irritiert. Merkwürdig. Er sah sich seinen Arm und seine Finger genauer an und strich mit der anderen Hand darüber. Eigenartig. Es war fast so, als ob er dachte, wie sich seine Haut anfühlen sollte - und das war irgendwie anders, als wie es sich wirklich anfühlen müsste. Und warum war ihm das eigentlich heute Morgen nicht aufgefallen? Verwirrt schaute er sich um. Wurde er etwa krank?

Auf dem Stuhl vor dem Monitor sitzend war er froh, dass immer noch niemand hereinkam. So saß er eine lange Zeit und stellte fest, dass er keine Geräusche mehr aus dem Institut hörte, was auch ungewöhnlich war. Herbert entschied, dass er vorerst hierbleiben würde, bis es ihm besser ging, denn irgendetwas stimmte nicht. Er legte sich auf die Liege, die im Raum stand und schloss die Augen. Seine Gedanken rotierten ... aber er schien nicht einschlafen zu können. Geistig war er hellwach und nicht müde im eigentlichen Sinn. Also im Grunde fühlte er sich fit und munter und nicht krank! Nach einer unbestimmten Zeit schaute er auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie nicht mehr am Arm war; schade, wenn er sie nicht mehr wiederbekam. Er schien jedes Zeitgefühl verloren zu haben. Naja, die anderen waren bestimmt aufgehalten worden - irgendwann kam sicherlich jemand. Und tatsächlich hörte er jetzt die Stimme von Sue, die gerade den Raum betrat.
"Herbert", sagte sie eindringlich und schubste ihn an. Er war sofort auf den Beinen.
"Gut, dass du da bist", sagte er erleichtert, "heute ist alles merkwürdig, obwohl ich mich nicht krank fühle."
"Gut, dass du das sagst, das geht mir genauso", meinte Sue beunruhigt. "Zuerst ist mir das gar nicht so aufgefallen, aber ... hast du schon gemerkt, wie die Leute reagieren? Sie sagen dasselbe, was sie gestern oder die Tage gesagt haben. Herbert, ich habe heute lauter Déjà-vu-Erlebnisse gehabt!"
Herbert starrte sie an und sagte dann langsam: "Da sagst du was ... das ist mir beim Prof auch aufgefallen."
"Und noch etwas: Ich habe mich heute Morgen mit einer Studentin in unserer WG heftig gestritten. Sie kam, mit ihren Sachen in der Hand, um Hals über Kopf auszuziehen. Genau das hatte ich schon kommen sehen und jetzt lässt sie uns tatsächlich einfach auf den Kosten sitzen. Na, der habe ich die Meinung gegeigt! Aber jetzt kommt es: Im Zuge der Auseinandersetzung habe ich ihr von ganzem Herzen gewünscht, dass sie mit ihrem verdammten Krempel die Treppe hinunterfällt und ich sie nie mehr wiedersehen muss. Und weißt du, was passiert ist?"
"Ähm ... sie ist die Treppe runtergefallen?"
Sue nickte und sagte: "Es war unheimlich, Herbert. Sag mal, wo ist Prof. Langer oder Prof. Anderson, sollten die nicht mal bei uns vorbeischauen?"
"Prof. Langer habe ich noch gesehen. Und weißt du was?" Herbert strahlte und plusterte sich stolz auf: "Er will mir einen Job beim Institut anbieten, klasse, was?"
Sue schaute ihn erheitert an und lachte: "Das ist wohl dein Wunschdenken, oder?"
"Na hör mal, wenn ich es dir sage?", meinte Herbert empört.
Sie schauten sich beide an, als die Tür aufging und Jan hereinkam.
"Seid ihr das, Herbert, Sue?"
"Wer sollen wir denn sonst sein! Hast du gestern einen über den Durst getrunken, Jan?", fragte Herbert amüsiert.
Jan kam auf sie zu und umarmte beide. "Bin ich froh, dass ihr wenigstens real seid! Alles ist heute so unwirklich. Kommt mal mit, ich will euch was Verrücktes zeigen."
Er nahm beide an der Hand und sagte bedeutungsvoll: "Augen zu, Leute. Vertrauensspiel: Ich führe euch und ihr folgt."
Herbert und Sue sahen sich an und grinsten. Jan und seine verrückten Einfälle. "Na, dann mal los, führe uns nach Eden."
Nachdem sie nur ein paar Schritte gegangen waren, hörten sie seine Stimme: "Jetzt könnt ihr die Augen wieder aufmachen."
Erstaunt sahen sich beide um. Eben waren sie noch im Labor gewesen und jetzt befanden sie sich auf einem großen Flur, aber - durch eine Tür waren sie nicht gegangen, oder?
"Genau, Leute, ich habe es durch Zufall entdeckt." Er nahm sie erneut an die Hand und zog sie wieder durch die Wand zurück. Da war kein Widerstand, nichts!
Herbert und Sue starrten ihn entgeistert an.
"Was ist das hier ... sind wir tot?", rief Herbert in einem Anflug von Panik. Auch Sue ging es nicht besser: "Das Experiment ist schief gelaufen, oh mein Gott!" Sie schlug die Hände über dem Kopf und sackte zusammen.
Jan ging zu ihr und strich ihr über das Haar: "Beruhige dich, Sue, atme erstmal tief durch."
Sie sah ihn verzweifelt an: "Wie kann ich atmen, wenn ich tot bin?!"
"Hey, hey, nicht durchdrehen, Leute, wir sind zusammen und wir stehen das auch gemeinsam durch", sagte Jan energisch und entschlossen. "Komm her, Herbert, wir müssen zusammen halten."
Alle drei setzten sich schließlich voreinander und hielten sich an den Händen, um sich wieder zu beruhigen. Nach einer Weile sagte Herbert, die grausame Wahrheit als Erster stockend und leise aussprechend: "Wir sind nicht tot, nicht wahr? Das Experiment ist auch nicht schief gelaufen - wir sind die Uploads ..."

Danach herrschte Stille und sie hielten sich umarmt, um sich nicht allein dieser unfassbaren, unwirklichen Realität ausgeliefert zu fühlen.

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