Herbert König-Jan Meier-Sue Kögel
20. Juni 2018, Jülich - Digitalisierte Bewußtseine (Mind-Uploads) im Supercomputer JUWELS, aus dem Buch "Golems Rückkehr"
Als Herbert König in seinem Studentenzimmer aufwachte, gähnte er und stieß erst einmal seinen morgendlichen Juchzer aus. Das Leben lag ihm zu Füßen und er war bereit. So stand er auf, ging ins Bad und schnappte sich den Rasierer. Nach der Dusche sah Herbert in den Spiegel, so wie jeden Morgen, und ihn beschlich plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass heute irgendetwas anders war als sonst. Aber so genau konnte er es nicht sagen, also holte er sich sein Müsli aus dem Kühlschrank, trank einen Espresso und machte sich auf den Weg.
Er radelte durch die Stadt zur Uni und dachte daran, dass sie gestern die Digitalisierung seines Gehirns, mitsamt allen Erinnerungen, Gefühlen und Erfahrungen fertiggestellt und auf JUWELS, den Supercomputer des Instituts, hochgeladen hatten. Er und zwei andere Studenten waren für das Experiment ausgesucht worden. Wow, hatte er gedacht - ein Bewusstsein zu digitalisieren? Was für eine faszinierende Vorstellung. Und dieses Experiment bot ihm eine gute Gelegenheit, Erfahrungen für seine berufliche Zukunft zu sammeln. Herbert hatte seine Ambitionen hoch gesteckt. Als Jugendlicher hatte er schon immer gerne herumgehackt und später begann er, sich für künstliche Intelligenz zu interessieren. Er wollte in die Forschung und die zukunftsträchtigen Entwicklungen mittragen, die gerade auf allen Ebenen begonnen hatten. Es war eine spannende Zeit und er war sich sicher, dass die Zukunft Überraschungen bereit hielt, die sich heute kaum jemand vorstellen konnte. Wie es seinem digitalisierten Bewusstsein wohl jetzt ging?
Durch die Uni gehend sah er,
wie immer, viele Menschen an sich vorbeiströmen.
"Hi Thorsten!",
rief er einem anderen Studenten zu, der gerade wortlos an ihm vorbeiging, ohne
ihn weiter zu beachten. Er sah ihn jeden Morgen, aber heute war er wohl nicht
so gut drauf. Naja, dem war wohl eine Laus über die Leber gelaufen.
Kopfschüttelnd ging er weiter. Ah, da war der Hörsaal. Heute Morgen wollte er sich noch eine Lesung über Kybernetik
zu Gemüte führen und dann ins Institut zu JUWELS fahren.
Er setzte sich in den leeren
Saal und wartete, in seinen Unterlagen blätternd. Der Hörsaal füllte sich und das
übliche Stimmengewirr war zu hören. Da erschien auch schon Prof. Wiesner. Nach
zehn Minuten war er etwas verblüfft: Hatte Prof. Wiesner das nicht schon so
ähnlich vor ein paar Tagen erzählt? Das war ja nun wirklich nichts Neues, was
er da brachte. Anstandshalber blieb er noch eine viertel Stunde, bevor er
aufstand und ging. Heute lohnte es sich nicht, da fuhr er lieber ins Institut.
Bevor er aus dem Hörsaal ging, warf er noch einen Blick zurück - merkwürdig,
war der Raum vorhin nicht voller gewesen? Da hatte er sich wohl getäuscht.
Herbert König wandte sich um
und machte einen kurzen Umweg über die Bibliothek. Valerie würde sicher schon
da sitzen und lernen - morgen war ihr Klausurtag und daher hatte sie ihre Ruhe
haben wollen. Erwartungsvoll öffnete er die Tür und sah sie, über ihre Notizen
gebeugt, an einem Tisch sitzen. Leise schlich er zu ihr und umarmte sie von
hinten, ihr die Augen zuhaltend: "Rate, wer hier ist!" Er küsste sie
aufs Ohr, roch den Duft ihrer Haare und wollte sie liebevoll küssen, was sie aber eher
passiv geschehen ließ. Er stutzte: "Was ist los, Val? Hast du was?"
Sie schien sich plötzlich umgedreht zu haben und lächelte ihn an. In dieses verträumte Lächeln hatte er sich schon verliebt, als er sie das
erste Mal sah. "Hör mal, ich fahre jetzt ins Institut und später essen wir
zusammen. Ich hole dich ab, mmh?" Er setzte sich neben sie und wieder tauchte
dieses eigenartige Gefühl auf. Aber es war doch alles so, wie es sein sollte,
dachte er irritiert. Herbert sah seine Freundin prüfend an und strich ihr über
die Haare: "Du gefällst mir gar nicht, du arbeitest zu viel." Sie sah
ihn still und lächelnd an. "Gut, dann lasse ich dich mal. Bis später, Süße."
Herbert erhob sich und ging
aus dem Saal. Draußen holte er sich sein Rad und auf ging es durch die belebte
Stadt. Neben einer roten Ampel stand ein schwarzer Van mit abgedunkelten
Fenstern. War das nicht der, über den er sich gestern geärgert hatte, da er ihm die Vorfahrt genommen
hatte? So ein Arsch. Er versuchte hineinzusehen, was aber nicht möglich war. Schließlich
hatte er das Institut erreicht und ging in die Abteilung, in der er gestern
gewesen war.
Prof. Langer erschien plötzlich vor ihm, begrüßte ihn und
beglückwünschte ihm zum Erfolg des Uploads. Es lief grandios und dank seiner
guten Mitarbeit erfuhr das Projekt gerade eine äußerst positive Wende. So gute
Studenten wie er mussten gefördert werden, dafür würde er gerne sorgen. Seine
Ideen und Vorschläge wären herausragend und, wenn er seinen Abschluss in der
Tasche hatte, würde er ihn gerne hier im Institut sehen. Überrascht von soviel guten
Neuigkeiten strahlte Herbert bis über beide Ohren. Denn das war etwas, was er
sich insgeheim immer gewünscht hatte. Prof. Langer war eine Kapazität auf
seinem Gebiet ... und endlich jemand, der sein Potential erkannte!
Herbert ging in den Raum, in
dem gestern das Gehirn- oder Mind-Upload durchgeführt worden war und schaute auf das
Terminal und den Überwachungsmonitor. Eigentlich müssten in den Gehirnarealen
die entsprechenden Färbungen zu sehen sein. Gelb, grün ... alles schien in Ordnung.
Auf die Mitarbeiter des
Instituts wartend, setzte er sich. Was hatte er eigentlich noch gestern Abend
gemacht, dachte er plötzlich. Mmh, daran hatte er keine Erinnerung und wieder
überkam ihn ein Gefühl, das an eine Gänsehaut erinnerte. Aber er bekam nicht
wirklich eine, registrierte er irritiert. Merkwürdig. Er sah sich seinen Arm
und seine Finger genauer an und strich mit der anderen Hand darüber. Eigenartig.
Es war fast so, als ob er dachte, wie sich seine Haut anfühlen sollte - und das
war irgendwie anders, als wie es sich wirklich anfühlen müsste. Und warum war
ihm das eigentlich heute Morgen nicht aufgefallen? Verwirrt schaute er sich um.
Wurde er etwa krank?
Auf dem Stuhl vor dem
Monitor sitzend war er froh, dass immer noch niemand hereinkam. So saß er eine
lange Zeit und stellte fest, dass er keine Geräusche mehr aus dem Institut
hörte, was auch ungewöhnlich war. Herbert entschied, dass er vorerst
hierbleiben würde, bis es ihm besser ging, denn irgendetwas stimmte nicht. Er
legte sich auf die Liege, die im Raum stand und schloss die Augen. Seine
Gedanken rotierten ... aber er schien nicht einschlafen zu können. Geistig war er
hellwach und nicht müde im eigentlichen Sinn. Also im Grunde fühlte er sich fit
und munter und nicht krank! Nach einer unbestimmten Zeit schaute er auf seine
Armbanduhr und stellte fest, dass sie nicht mehr am Arm war; schade, wenn er sie nicht mehr wiederbekam. Er schien jedes Zeitgefühl verloren zu haben. Naja,
die anderen waren bestimmt aufgehalten worden - irgendwann kam sicherlich jemand. Und tatsächlich hörte er jetzt die Stimme von Sue, die gerade den Raum betrat.
"Herbert", sagte
sie eindringlich und schubste ihn an. Er war sofort auf den Beinen.
"Gut, dass du da
bist", sagte er erleichtert, "heute ist alles merkwürdig, obwohl ich
mich nicht krank fühle."
"Gut, dass du das
sagst, das geht mir genauso", meinte Sue beunruhigt. "Zuerst ist mir
das gar nicht so aufgefallen, aber ... hast du schon gemerkt, wie die Leute
reagieren? Sie sagen dasselbe, was sie gestern oder die Tage gesagt haben.
Herbert, ich habe heute lauter Déjà-vu-Erlebnisse gehabt!"
Herbert starrte sie an und
sagte dann langsam: "Da sagst du was ... das ist mir beim Prof auch
aufgefallen."
"Und noch etwas: Ich
habe mich heute Morgen mit einer Studentin in unserer WG heftig gestritten. Sie
kam, mit ihren Sachen in der Hand, um Hals über Kopf auszuziehen. Genau das hatte ich
schon kommen sehen und jetzt lässt sie uns tatsächlich einfach auf den Kosten sitzen. Na,
der habe ich die Meinung gegeigt! Aber jetzt kommt es: Im Zuge der
Auseinandersetzung habe ich ihr von ganzem Herzen gewünscht, dass sie mit ihrem verdammten Krempel die Treppe hinunterfällt und ich sie nie mehr
wiedersehen muss. Und weißt du, was passiert ist?"
"Ähm ... sie ist die
Treppe runtergefallen?"
Sue nickte und sagte:
"Es war unheimlich, Herbert. Sag mal, wo ist Prof. Langer oder Prof.
Anderson, sollten die nicht mal bei uns vorbeischauen?"
"Prof. Langer habe ich
noch gesehen. Und weißt du was?" Herbert strahlte und plusterte sich stolz
auf: "Er will mir einen Job beim Institut anbieten, klasse, was?"
Sue schaute ihn erheitert an
und lachte: "Das ist wohl dein Wunschdenken, oder?"
"Na hör mal, wenn ich
es dir sage?", meinte Herbert empört.
Sie schauten sich beide an,
als die Tür aufging und Jan hereinkam.
"Seid ihr das, Herbert,
Sue?"
"Wer sollen wir denn
sonst sein! Hast du gestern einen über den Durst getrunken, Jan?", fragte
Herbert amüsiert.
Jan kam auf sie zu und
umarmte beide. "Bin ich froh, dass ihr wenigstens real seid! Alles ist
heute so unwirklich. Kommt mal mit, ich will euch was Verrücktes zeigen."
Er nahm beide an der Hand
und sagte bedeutungsvoll: "Augen zu, Leute. Vertrauensspiel: Ich führe
euch und ihr folgt."
Herbert und Sue sahen sich
an und grinsten. Jan und seine verrückten Einfälle. "Na, dann mal los,
führe uns nach Eden."
Nachdem sie nur ein paar
Schritte gegangen waren, hörten sie seine Stimme: "Jetzt könnt ihr die
Augen wieder aufmachen."
Erstaunt sahen sich beide
um. Eben waren sie noch im Labor gewesen und jetzt befanden sie sich auf einem
großen Flur, aber - durch eine Tür waren sie nicht gegangen, oder?
"Genau, Leute, ich habe
es durch Zufall entdeckt." Er nahm sie erneut an die Hand und zog sie
wieder durch die Wand zurück. Da war kein Widerstand, nichts!
Herbert und Sue starrten ihn
entgeistert an.
"Was ist das hier ... sind wir
tot?", rief Herbert in einem Anflug von Panik. Auch Sue ging es nicht
besser: "Das Experiment ist schief gelaufen, oh mein Gott!" Sie
schlug die Hände über dem Kopf und sackte zusammen.
Jan ging zu ihr und strich
ihr über das Haar: "Beruhige dich, Sue, atme erstmal tief durch."
Sie sah ihn verzweifelt an:
"Wie kann ich atmen, wenn ich tot bin?!"
"Hey, hey, nicht
durchdrehen, Leute, wir sind zusammen und wir stehen das auch gemeinsam
durch", sagte Jan energisch und entschlossen. "Komm her, Herbert, wir
müssen zusammen halten."
Alle drei setzten sich schließlich
voreinander und hielten sich an den Händen, um sich wieder zu beruhigen. Nach
einer Weile sagte Herbert, die grausame Wahrheit als Erster stockend und leise aussprechend:
"Wir sind nicht tot, nicht wahr? Das Experiment ist auch nicht schief
gelaufen - wir sind die Uploads ..."
Danach herrschte Stille und
sie hielten sich umarmt, um sich nicht allein dieser unfassbaren, unwirklichen Realität
ausgeliefert zu fühlen.